Luthers Vorliebe für Musik führte nach der Reformation zu einer Blüte des Gesangs an öffentlichen Schulen in Mitteldeutschland. Dass Knaben mit Kirchenmusik ihr Schulgeld ersangen, ist dabei keine Leipziger Besonderheit. Außergewöhnlich hingegen ist die Tatsache, dass in der Messestadt die Alumnen nur einer einzigen Schule für die Musik an allen städtischen Gotteshäusern (mit Ausnahme der autarken Universitätskirche) verantwortlich waren.
Um dies zu organisieren, musste die Thomasschule jahrhundertelang für einen leistungsfähigen zweiten Chor sorgen. Dessen Wurzeln reichen sogar in die vorreformatorische Zeit zurück: Als 1512 die Nikolaischule als städtische Bildungseinrichtung gegründet wurde, unterband das Thomasstift die Pläne der Ratsherren, dort einen eigenen Chor ins Leben zu rufen. Dieser nämlich hätte die Einnahmen der Thomaner drastisch reduzieren können. Stattdessen, so verfügte die Klosterleitung, habe der Thomasschulrektor für die Gottesdienste in St. Nikolai die zu diesen Terminen für die Musik an St. Thomas nicht verwendeten Schüler zu entsenden. Schon kurze Zeit später lässt sich dann jene Praxis belegen, die bis 1940 Bestand hatte: Zwei verschiedene Chöre der Thomaner sangen zeitgleich oder abwechselnd in den beiden Hauptkirchen. Was auch der Grund dafür ist, dass einige Bachwerke erstmals in der Nikolaikirche das Licht der Welt erblickten.
Text: Hagen Kunze